Ohne existierendes Terra nullius - ugs. Niemandsland, in der Politikwissenschaft auch als unregiertes Territorium bezeichnet - können heutzutage neue Staaten nur durch eine Sezession entstehen. Statistiken zeigten, dass mehr als die Hälfte der Bürgerkriege - ungeachtet des Status, ob beendet oder noch aktiv - sich aus einem Sezessionskonflikt entwickelten. Brucker vermutet als Erklärung für diese Entwicklung sich vorher überlappende Imperien, deren Rückzug neues und altes Konfliktpotential aufkommen ließen.
Brucker verwies auf die Definition besonders in der Politikwissenschaft verwendete Definition von Horowitz aus dem Jahr 1992: in dieser setzt er für eine erfolgreiche Sezession eine von einem “ursprünglichen Staatsgebiet” unabhängige Souveränität sowie die Anerkennung des Ersteren voraus. Bartkus definierte 1999 Vorbedingungen für eine Sezessionsbewegung, darunter eine ausgeprägte Gemeinschaft mit einem spezifischen Territorium und Führungspersönlichkeiten. Wissenschaftliche Erklärungen für Sezessionsbewegungen umfassten neben allgemeiner Unzufriedenheit auch Missstände, Gier und die reine Eskalation eines bereits herrschenden Konflikts. Des Weiteren dürfe die Rolle von Triggern für Sezessionsbewegungen nicht unterschätzt werden. In der Argumentation von Sezessionsbewegungen für die Unabhängigkeit fänden sich neben restaurativen Argumenten wie die Dekolonialisierung auch vorgeworfene Genozide und Menschenrechtsverletzungen, der Anspruch auf Selbstverwaltung und eine bereits existierende de facto Staatlichkeit.
Um nach einer gewonnenen Unabhängigkeit in die UN aufgenommen zu werden, sieht die Charter in Artikel 4 eine Abstimmung der Generalversammlung mit einer erforderlichen ⅔ Mehrheit sowie die Zustimmung des Sicherheitsrates vor. Seit 1995 entstand im Durchschnitt alle zwei Jahre ein neuer Staat, dennoch liegt die Entstehung des letzten anerkannten Staates mit dem Südsudan schon 14 Jahre zurück. Brucker sieht in der aktuellen Situation Bougainville, eine Insel von Papua New Guinea, und Grönland als die vielversprechendsten Kandidaten an, nach dem Südsudan der nächste international anerkannte Staat zu werden.
Bougainville ist eine autonome Region von Papua New Guinea im Südpazifik und wird aufgrund der riesigen Vorkommen an Gold, Kohle und Gas trotz der herrschenden Unterentwicklung als Saudi Arabien des Pazifiks bezeichnet. Dennoch ist es abhängig von Importen aus Papua New Guinea und in den letzten Jahren vermehrt im geopolitischen Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und China.
Bougainville fiel in den 1880er Jahren der deutschen Kolonie Deutsch Neu Guinea zu, blieb aber kulturell den Solomon Islands näher verbunden. Auch nach der Unabhängigkeit von Papua New Guinea blieb Bougainville ein Teil von Papua New Guinea. So folgte eine Unabhängigkeitserklärung von Bougainville, verbunden mit einem brutalen Unabhängigkeitskrieg bis ins Jahr 1990. Nach Friedensinterventionen von Neuseeland und Australien gelang es im Jahr 2001, einen Friedensvertrag auszuhandeln, der unter anderem Bougainville Autonomie erteilte und ein im Jahr 2019 stattfindendes Referendum vorsah. In diesem sprachen sich 176.928 Einwohner von Bougainville und damit ca. 97% für die Unabhängigkeit aus. Die darauf folgenden und vom Friedensvertrag 2001 vorgesehenen Gespräche zwischen Papua New Guinea als Ausgangsstaat und Bougainville über die Unabhängigkeit sind jedoch Stand Mai 2025 ins Stocken geraten. Dennoch läuft der Prozess der Verfassungsbildung in Bougainville weiter, um das große Ziel der Unabhängigkeit am 01. September 2027 offiziell zu erreichen.
Im Fall von Grönland handelt es sich wie bei Bougainville bereits um eine autonome Region in einem größeren Staat. Auch Grönland ist reich an Ressourcen, aber unterentwickelt, und abhängig von dänischen Importen. Desweiteren liegt Grönland aufgrund des wachsenden Interesses am Polarkreis im Fokus geopolitischer Entwicklungen.
Grönland, seit dem 18. Jahrhundert eine Kolonie von Dänemark, wurde 1953 für knapp 30 Jahre ein County vom Königreich Dänemark. Erst durch den Greenland Home Rule Act von 1978 folgte die Autonomie, welche durch den Act on Greenland Self-Government weiter gestärkt wurde und nun Selbstbestimmung ermöglichte. Grönland besitzt seitdem eine weitreichende Entscheidungsmacht, die wichtigsten Entscheidungen werden jedoch weiterhin in Kopenhagen getroffen. Seit 2009 besitzt Grönland das einzigartige Recht auf Unabhängigkeit, wobei ein Referendum und die Zustimmung aus Kopenhagen vorausgesetzt werden. Momentan arbeitet Grönland wie Bougainville an einer eigenen Verfassung, die in beiden Fällen als eine allgemeine Grundlage für die Unabhängigkeit angesehen werden muss. Brucker sieht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das zuvor erwähnte Referendum in der im März 2025 begonnenen Legislaturperiode erfolgen wird.
Sowohl Bougainville als auch Grönland vereint das Bestreben nach Unabhängigkeit. Dennoch bleiben große Fragen offen, besonders beim Thema Verfassung und Wirtschaft. Weder Grönland, noch Bougainville, können momentan ihre eigene Bevölkerung, wenn sie denn unabhängig werden, versorgen. Aber auch außenpolitische Fragen sind nicht irrelevant. Während im Südpazifik vor allem die USA und China geopolitisch aufeinandertreffen, sind es im Fall von Grönland die USA und Russland. Um nun als Staat in die UN aufgenommen zu werden, ist die Zustimmung des Sicherheitsrates notwendig (siehe Artikel 4), doch scheint eine Einigung innerhalb der P5 durch die gegensätzlichen Interessen von China, den USA und Russland als unmöglich. Hinzu kommt, dass Trump die UN nicht erst seit dieser Legislaturperiode marginalisiert und damit eine Zustimmung im Sicherheitsrat an Bedingungen geknüpft werden könnte. Während Bougainville seine Ressourcen als Lockmittel für amerikanische Unterstützung benutzt, wehrt sich Grönland gegen eine Einmischung der USA und die Ausnutzung der grönländischen Ressourcen. Somit wird es vermutlich noch einige Jahre dauern, bis ein neuer Staat entsteht und in die UN aufgenommen werden kann.
Zum Schluss diskutierten die Zuhörer angeregt mit dem Dozenten, wie sie die realen Chancen von Grönland und Bougainville sehen und ob eine andere Sezessionsbewegung für sie am vielversprechendsten ist.