„De facto ein ausgewachsener Krieg“

Wie hat sich der Ukraine-Konflikt nach über zwei Jahren entwickelt, wie sieht die Lage vor Ort aus?

Das wollte die neu gegründete Hochschulgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wissen und lud zur Auftaktveranstaltung OSZE-Beobachter Jürgen Speidel nach Jena ein.

Im Februar 2014 kam es in der Ostukraine zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Separatisten und Demonstranten, die ukrainisch bleiben wollten. Russische Truppen besetzten daraufhin strategisch wichtige Gebäude und Einrichtungen auf der Halbinsel Krim. Die deshalb von den Medien titulierte ‚Krimkrise‘ weitete sich binnen weniger Wochen so immens aus, dass vor allem in Luhansk und Donezk bewaffnete Separatisten und ukrainische Militärs sich schwere Gefechte lieferten.

 

Wie hat sich dieser Konflikt nach über zwei Jahren entwickelt, wie sieht die Lage vor Ort aus?

Das wollte auch die Hochschulgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wissen. Um diese Fragen zu beantworten, luden die Mitglieder der neu gegründeten Hochschulgruppe Jürgen Speidel nach Jena ein.

 

Speidel ist einer von über 600 zivilen Beobachtern aus mehr als 40 Nationen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und seit Beginn der SMM-Mission - „Special Monitoring Mission to Ukraine“ - 2014 vor Ort. Die OSZE hat dabei als wichtige regionale Sicherheits-Organisation den Auftrag, die Kampfhandlungen und die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen zu überwachen. Das Mandat dazu erteilten alle 57 teilnehmenden Staaten einstimmig, einschließlich Russland und der Ukraine.

 

Auftrag der „Mission to Ukraine“

Aufgrund dieses Beschlusses wurden ab dem 21.03.2014 zunächst 100 unbewaffnete zivile Beobachter in die Krisenregion entsandt. Ihr Auftrag, so beschreibt es Seidel anschaulich, ist es „aus erster Hand berichten - also das, was wir selbst dokumentieren und mit eigenen Augen sehen.“ Informationen vom Hörensagen, die an die Teams der OSZE herangetragen werden, müssen anschließend einzeln und detailliert anhand weiterer Quellen verifiziert werden.

 

Über die Anfangszeit berichtet er: „Unser Büro öffneten wir mit vier Leuten in einem Hotelzimmer. Wir haben die Mission also praktisch bei null gestartet.“ Denn vor allem die Erfüllung administrativer Aufgaben belastete zunächst die OSZE-Mitarbeiter bei der Erfüllung ihres Auftrages. Für Jürgen Seidel bestand dieser darin, die Diversität der Berichterstattung durch Genderaufnahme zu wahren, um einen detaillierten Blick zu erhalten, welche Faktoren bei den einzelnen Bevölkerungsgruppen eine Rolle spielen. Zur Veranschaulichung dieser Aufgabe als ‚gender focal point‘ erklärte er, dass es eben relevant sei, ob an einem Tag ältere Frauen oder überwiegend junge Männer die Grenze überquerten, da letztere Kämpfer seien könnten.

 

Administrative boundery line

Der Einsatzort Jürgen Speidels befand sich regelmäßig in umkämpften Gebieten. Nachdem er zunächst in Cherson eingesetzt gewesen war, änderte sich sein Arbeitsort anschließend nach Mariupol, der zweitgrößten Stadt im Oblast Donezk. Unmittelbar dort befindet sich auch die „administrative boundery line“. Diese stellt eine offizielle ‚Verwaltungsgrenze‘ zur Krim dar, da das Gro der internationalen Gemeinschaft die Annexion der Halbinsel und folglich eine völkerrechtliche Grenze nicht anerkennt.

 

Seine Erfahrungen vom Leben und Arbeiten an der „Kontaktlinie“, wie die faktische Front ohne offiziellen Kriegsstatus genannt wird, sind von täglichen bewaffneten Handlungen und Kämpfen der beteiligten Parteien geprägt. „Auf beiden Seiten steht Waffenarsenal. Du hörst ständiges Maschinengewehrfeuer in nächster Umgebung“, schildert er und berichtet, dass auch schwere Waffen gelegentlich eingesetzt werden – obwohl diese nach den Abkommen Minsk I und Minsk II eigentlich abgezogen sein sollten.

 

Demgegenüber schätzt er allerdings es auch als Vorteil ein, so nah am Geschehen zu sein. Aufgrund seines fast täglichen Übertritts über die Kontaktlinie entsteht der Vorteil, dass er täglich Kontakt zu beiden Seiten hat. „Das gibt uns die Möglichkeit vor Ort in Kontakt zu treten“, so Speidel.

 

„De facto ein ausgewachsener Krieg“

Entgegen des offiziellen Duktus eines bloßen Konflikts fasst er deshalb die Lage in der Ostukraine zusammen als „de facto einen ausgewachsenen Krieg. Und die Situation wird nicht besser“.

 

Die OSZE stellt für die Beteiligten eine Kommunikationsplattform zur Verständigung her, ist aber lediglich neutraler Beobachter, um die ausgehandelten Prozesse zu überwachen und Verletzungen zu melden. „Nur damit wird der Konflikt nicht gelöst“, gibt er über die Rolle der OSZE zu bedenken. Denn die Beobachtermission hat keinen unmittelbaren Einfluss auf das Verhalten der kämpfenden Parteien. Sie kann lediglich Informationen einholen und über Sicherheitssituation berichten.

 

Auch für die Zivilbevölkerung kann die Mission die Probleme des Alltags nicht unmittelbar lösen. Die OSZE-Mitglieder dürfen aufgrund ihres Mandats lediglich die humanitäre Hilfe anderer Organisationen ermöglichen und diese über die Lage informieren. Denn die OSZE ist teilweise die einzige Organisation, die überhaupt in die Konfliktzone fahren kann.

 

Manchmal könne die OSZE aber auch gar nicht mehr tätig werden, so Jürgen Speidel, wenn nämlich die „Alten aus der Krisenregion nicht weg wollen.“ Dann sei es auch für ihn nicht mehr möglich, ständige Hilfe von Humanitären Organisationen anzufordern, wenn die Gefahr für die internationalen Helfer selbst zu groß wird. Zudem werden auch OSZE-Mitarbeiter angegriffen, was nach seiner Ansicht teilweise auch nicht versehentlich geschehe. Schließlich sind Berichte über Kampfhandlungen für die eine oder andere Seite nicht immer erwünscht.

 

Nach einer Bilderschau mit zerstörten Häusern, die dennoch bewohnt sind, zerschossenen Zäunen, zersprengten Straßen sowie Sprengfallen und Granaten gibt Speidel einen Ausblick auf das nächste Jahr in der Ukraine: „Wenn es so weiter geht wie bisher, dann wird der Konflikt eingefroren.“ Denn nach seiner Ansicht ist „keine Seite so stark, um eine Invasion erfolgreich zu beenden“. Einen Ausweg aus der festgefahrenen Lage sieht er nur dann, wenn man die beiden Seiten dazu zwingen könne, aufeinander zuzugehen. Für die OSZE-Mission erwartet er, dass deshalb weitere Instrumente wie eine Polizeimission hinzukommen könnten.

 

Abschließend stellt er zur Lage der Ukraine fest: „Sie braucht Reformen und Reformwillen, der den Konflikt erübrigen wird“.